Elmar Mauch, Zwischen Bildern und Stühlen– Künstlerische Bildforschung und die Überwindung des Archivgedankens, erschienen in: Fotogeschichte 146, 2017
Im Unterschied zu klassischen Bewahrsituationen für fotografische Bilder in Archiven gibt es im Archiv der verwaisten Bilder keinerlei Grundvoraussetzungen an die fotografischen Archivalien. Weder in technischer, noch formaler Hinsicht sind Einschränkungen definiert. Auch ein in Auflösung befindliches Bild kann zum Forschungsgegenstand werden. Im 2011 gegründeten Institut für künstlerische Bildforschung (IKB), einem ein hybriden Projekt, das zwischen intelligenter Bildforschungstätigkeit und künstlerischem Statement angelegt ist (www.ikb-bildforschung.de), herrscht die Überzeugung, dass durch einen radikalen, aber auch behutsamen, anti-archivarischen Eingriff ungeahntes Potential aus fotografischen Bildern kondensiert und sichtbar gemacht werden kann. Und mehr noch: dass zwischen den Stühlen der einzelnen wissenschaftlichen Ausrichtungen mehr Erkenntnis zu gewinnen ist als auf deren breitgesessenen Sitzflächen.
Elmar Mauch, Über die Veränderung des Blicks. Kontextwandel – ein Fallbeispiel, erschienen in: Eine Fotografie – Über die transdisziplinären Möglichkeiten der Bildforschung, Waxmann-Verlag 2017
Fotografische Bilder sind visuell überlieferte Artefakte von ehemaligen Gegebenheiten. Fakt ist, dass irgendwann Licht von den abgebildeten Menschen und Gegenständen reflektiert wurde und in der Sammellinse des Kameraobjektivs gebündelt und mit physikalisch-optischen Mitteln festgehalten bzw. im analogen Filmmaterial gespeichert wurde. Es materialisieren sich also Abbildungsfragmente einer wie auch immer gearteten Vergangenheit in diesen Bildern. Diese fotografischen Relikte hatten Kommunikationsfunktion und waren für ein spezifisches Publikum bestimmt. Wir heutigen Betrachter können diese Bilder nur noch unzureichend lesen, da wir nicht als Publikum gemeint waren und uns Informationen und Ursprungskontexte fehlen. Vor allem bei anonymen Fotografien entsteht deshalb eine Kommunikationslücke, die es mit verschiedenen kreativen Methoden zu überwinden gilt. Denn es steht außer Frage, dass in diesen fotografischen Bildern Einschreibungen von Leben und Welt vergangener Zeit enthalten sind. Trotz ihrer Fragmentierung sind sie wichtige alltagskulturelle Zeugnisse, deren Potential sich zu bergen lohnt.
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Wissenschafts- und Bildtheorien prallen aufeinander
Fotografisches Bild und wissenschaftliche Auswertung sind im Kontext von historischer Forschung ein schwieriges Pflaster. Wissenschafts- und Bildtheorien prallen aufeinander. Auf der einen Seite hat sich der meist textbasierte Wissenschaftsbetrieb den Bildern gegenüber geöffnet und bindet sie nun verstärkt in Untersuchungen ein. Andererseits werden dabei jedoch die Potentiale der fotografischen Bilder meist nur unzureichend ausgeschöpft. Vielleicht ist dies nur allzu verständlich angesichts der Tatsache, dass fotografische Bilder eine eigene Lesart erfordern. Um zu ihrem visuellen Potential vordringen zu können, braucht es nicht zwingend schriftliche Kontexte. Denn diese von außen an die Bilder herangetragenen Texte und Kontexte haben meist nur den Zweck, die fotografischen Bilder in ihrer Bedeutung festsetzen und die Wahrnehmung auf bestimmte Aspekte zu kanalisieren. Eine tiefgehende Forschung nutzt hingegen auch verborgene Bildpotentiale oder legt diese erst frei. Um an diesem entscheidenden Punkt weiterzukommen, sind Bildkompetenz und visuelle Intelligenz gefragt. Die künstlerische Bildforschung des „Instituts für künstlerische Bildforschung“ setzt an genau dieser Stelle an. Sie versucht den innerbildlichen Gehalt anonymer fotografischer Bilder zu erforschen und diesen durch künstlerisch-gestalterische Interventionen visuell sichtbar und erfahrbar zu machen.
Der Mann in Herrscherpose
Ausgangspunkt der beispielgebenden Untersuchung ist eine vor mehreren Jahren auf dem Flohmarkt gefundene anonyme Schwarz-Weiß-Fotografie. Auf der ca. 10 x 15 cm großen Fotografie, die anhand von Kleidung und Fotopapier in die 1930er Jahre zu datieren ist, ist ein sich auf einem Felsblock in Herrscherpose inszenierender Mann vor einem See und einer Gebirgslandschaft zu erkennen (Abb. 1). Es ist eine in ihrer Bildkomposition ästhetisch überzeugende Fotografie, die uns einen kleinen Ausschnitt von Welt anschaulich macht. Wir sehen ein Fragment der Vergangenheit. Ich stelle mir die Frage: Wie kann mehr über diese verschwundene Welt erfahren werden? Wie kann dies anschaulich gemacht und vermittelt werden.
Strategien und Herangehensweisen
Um mehr über das Abgebildete herauszufinden, gibt es je nach Weltsicht und Erkenntnisinteresse verschiedene Strategien und Herangehensweisen sich fotografischen Bildern zu nähern. Beim Vorbesitzer war dieses Interesse nicht mehr vorhanden. Da das verwaiste Bild seinen ursprünglichen Adressaten verloren hatte und den Nachgeborenen nur noch unzureichendes mitzuteilen hatte, ist es letztendlich auf dem Flohmarkt gelandet. Beim forschenden Blick auf diese fotografische Hinterlassenschaft prallen unterschiedliche Vorstellungen, Positionen, Ideologien, Forschungsinteressen und Herangehensweise aufeinander. Jeder sieht etwas anderes. Während der Soziologe das Objekt beschreibend umkreist, ist der Historiker eifrig mit Einordnen und Zuordnen zugange. So hat jeder einen anderen Blick, eine andere Weltsicht auf dasselbe Objekt. Vom Standpunkt des Künstlers schubladisiert die Historikerzunft zu sehr und die Soziologie bleibt auf Distanz. Beiden Methoden bleibt jedoch der innere Gehalt des Bildes verschlossen. Diesen freizulegen um die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit sehend ahnen zu können, ist mein Antrieb und Ausgangspunkt.
Das Befragen der Bilder
Ein erster Schritt, um mehr über Gehalt und Wirkung der noch rätselhaften Abbildung herauszufinden ist, das anonyme Alltagsfoto fragend zu untersuchen. Einige der Grundfragen an diese gefundenen Bilder können folgende sein: Was sehe ich? Woran erinnert es mich? Was war der Anlass für dieses Foto? Was ist wie ins Bild gesetzt? Ist es ein professionelles oder ein amateurhaft geknipstes Foto? Wie inszenieren sich die Personen im Bild? Oder wurden sie etwa von außen inszeniert? Mit Fragen wie diesen kann zum Urgrund des Fotos vorgedrungen und Intention und Anlass der Entstehung eines Bildes vergegenwärtigt werden. Manches wird trotz dieser Befragung im Dunkeln bleiben.
Die Sichtbarmachung
Während dieses Austauschprozesses mit dem Bild, dieses analytischen Befragens nach Inhalten und Wirkungen, entwickelt sich eine empathische, gedankliche Beziehung zum Gesehenen. Ich befrage das Bild, gewinne an Erkenntnis, sehe manches neu und finde interessante Aspekte. Nun möchte ich, da ich Künstler bin und Sichtbarmachen zu meinen Ansprüchen zählt, etwas von dem Erfahrenen in eine Bildarbeit umsetzen. Aus dem aufnehmenden Prozess soll nun ein bildender werden. Der entscheidende Punkt ist, nicht wie ein Analyst und Registrierer im Feststellen und Zuweisen zu verharren, sondern vielmehr Erkenntnisse anzuwenden, sie zu transformieren und visuell anschaulich zu machen. Denn genau dieser freie, experimentelle Umgang mit dem Material kann bisher im Dunkeln gebliebenes erhellen und Neues schaffen. Das verwaiste Bild ist Ausgangspunkt und Impulsgeber. Es schafft Denkansätze die weitergeführt und transformiert werden wollen.
Künstlerisch-gestalterische Methoden
Welche Werkzeuge stehen mir auf diesem Weg zur Verfügung? Künstlerisch-gestalterische Methoden, vor allem der Bildessay, die Bildmontage und das vergleichende Sehen sind geeignet, um Sinnzusammenhänge zu stiften, Lesarten vorzugeben und Gedanken auf visuellem Wege auszubreiten. Ein sensibler künstlerischer Entwurf bietet die Chance, Wahrnehmungsschwellen zu überwinden, den Geist zu öffnen und zu einem „Denken in Bildern“ zu gelangen. Ein offener Geist und ein waches Einfühlungsvermögen des Betrachters werden dabei zu willkommenen Verbündeten.
Bildrethorik
Es gilt dabei zu berücksichtigen, dass bei jeder Art der visuellen Vermittlung deren Duktus und Sprache zu bedenken ist. Neben der Sensibilität für Zusammenhänge und Verschränkungen ist die Wahl der Bildrhetorik entscheidend. Was wird wie gesagt? Dies scheint mir deshalb wichtig, da im Moment nicht nur im Internet laute Bildstrategien angesagt sind. Hier geht es oft nur um ein Erzeugen von schneller Aufmerksamkeit, um leicht konsumierbare Bildsensatiönchen, bei denen Anspruchslosigkeit Programm ist. Um dem etwas entgegensetzen zu können, und um das Potential von Bild, Erkenntnis und Poesie auszuschöpfen, sind andere Strategien und Vorgehensweisen vonnöten. Gefragt ist vielmehr eine klare, sensible und intelligente Anwendung visueller Ausdrucksmöglichkeiten, die auf der Kenntnis der Möglichkeiten der gestalterischen Methoden basiert. Für eine komplexe visuelle Erzählung, bei der Verbindungen und Verschränkungen eine entscheidende Rolle spielen, kann das Einzelbild nur ein Ausgangspunkt sein. Denn die Ideologie des Einzelbildes schließt aus, behauptet einsam und ist ihrem Wesen nach beschränkt.
Erweiterung der Thematik
Auch bei unserem Bildbeispiel stellt sich die Frage: Wie kann die Fülle unterschiedlicher Informationen, die diesem fotografischen Bild abgerungen wurden, in einem größerem Kontext zum Sprechen gebracht werden? Ein zweites oder drittes Bild des Felsens oder sogar weitere gefundene Inszenierungen aus dem Alpenraum könnten unserer Wahrnehmung neue Aspekte, Details, Argumente und Anschauungsmaterial liefern und eine spezifischere Thematik schaffen. Da passt es gut, dass sich mit dem Wissen um das Ausgangsbild im Laufe der Jahre viele weitere Fotos des Felsens finden ließen. Diese neuen, alten Fotografien ergänzten und erweiterten das sich nun klarer abzeichnende Thema: Menschen inszenieren sich an und auf diesem Fels an unbekanntem Ort. Es muss für diese Verhaltensweise ein Initial geben. Der Grund war nur zu vermuten: Urlaub, Gebirge, Zeitvertreib, Wanderung, gute Luft und der Wunsch, diesen besonderen Moment an diesem markanten Ort für sich im Foto festzuhalten.
Der fotografische Bildessay
Um dieses soziale Phänomen der Aktivitäten am Fels, das auch als Metapher auf unser Leben gesehen werden kann, visuell sichtbar zu machen, schien mir eine Geschichte in Bildern das adäquate Medium zu sein. Einzeln bleiben diese visuellen Überlieferungen von alltagskulturellen Handlungen ausschnitthaft, im Verbund mit anderen fotografischen Fragmenten des gleichen Ortes jedoch können diese Versatzstücke von Leben und Welt zu argumentieren beginnen. Ein fotografischer Bildessay, eine von visueller Energie getragene und vorangetriebene Erzählung in Bildern bietet die Möglichkeit, verborgenes Bildpotential sichtbar zu machen. Dem Betrachter stehen das Vergleichen, das Vor- und Zurückblättern und das denkende Verweilen als Mittel der Entdeckung zur Verfügung.
Künstlerische Interventionen
Um das Bildmaterial für einen gelingenden Bildessay neu lesbar zu machen, sind verschiedene Interventionen notwendig. Das zu verwendende Material wird geprüft, ausgewählt und in seiner Wirkung bestimmt. Dann werden Abfolge, Position und Abbildungsgröße der verwendeten Fotografien nach ästhetischen, formalen und wahrnehmungspsychologischen Kriterien festgelegt. Um eine sinnvolle und beabsichtigte Lesbarkeit zu erreichen, sind wie beim Filmschnitt Auswahl, Zurichtung und Umformung des Ausgangsmaterials wichtige Zwischenschritte. Trotz all dieser gestalterischen Eingriffe und Zielgerichtetheit ist es wichtig, eine Leichtigkeit im Erzählen zu bewahren. Wenn sich Form und Inhalt idealerweise ergänzen, bilden sich besondere Betrachtungs- und Vergleichsmöglichkeiten, und das ästhetisch aufbereitete Material wird auf spielerische Art und Weise umtanzt und durchdrungen.
Kommunikationslücke überwinden
Mit der beschriebenen Methode der künstlerischen Umsetzung werden die ehemals stillgestellten Bilder aus ihrer zeitlichen Verankerung gelöst. Durch die Konfrontation mit fotografischem Bildmaterial ähnlichen Ursprungs kann in und zwischen den Bildern Erkenntnis entstehen. Durch die gezielte Auswahl, Zurichtung und Montage wird die bisherige Kommunikationslücke überwunden. Die ehemals verwaisten Bilder beginnen nun wieder zu uns zu sprechen.
Die Entstehung von spezifischen Geschichten
Die im Betrachtungsvorgang zu machenden Erkenntnisse sind größtenteils nichtsprachlicher Art. Erfahrungen und Rückmeldungen zeigen, dass die ästhetischen Wirkungen der Bildergeschichte und die darin enthaltenen ausdifferenzierten Informationen von den Betrachterinnen und Betrachtern gedanklich und emotional mit deren Bilder- und Wissenskosmos abgeglichen werden. Die sich daraus ergebenden empathischen Reaktionen bilden zusammen mit den heraufziehenden Erinnerungen eine spezifische Geschichte, die je nach Erfahrungshintergrund und Lebensphilosophie variiert. Das ursprünglich anonyme, kontextlose Fundmaterial wird zu einer individuellen, emotionalen Geschichte erweitert.
Ein Wort an die Kritiker
Für alle Kritiker sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die beschriebene Methode nur mit Hilfe des Betrachters funktioniert. Ohne Offenheit, Einfühlungsvermögen und Neugier auf neue Einsichten und Anschauungen kann sie nicht funktionieren. Es braucht die Lust, sich auf ungesichertes Terrain vorzuwagen, sich Gefühlen zu öffnen und sich vielleicht sogar auf einen Flirt mit den Bildern einzulassen. Es geht um ein flanierendes Erkennen, um eine Kontaktaufnahme mit Bildern, um die Neugier an dem, was mir gezeigt wird. Es braucht einen offenem Geist, der sich Zeit für diesen besonderen Bewusstseinsvorgang nimmt. Denn Wahrnehmung braucht Entfaltungsmöglichkeiten.
Glaubensbekenntnis
Soweit meine theoretische Definition. Sie fußt auf wichtigen Beobachtungen, die mich langjähriges künstlerisch-gestalterisches Arbeiten gelehrt hat: Gute Geschichten und intelligente, mehrdimensionale Kunst sprechen uns auf verschiedenen Ebenen an. Sie treffen sowohl unseren Geist als auch unser Herz. Dies gilt es bei jeder künstlerischen Arbeit zu bedenken. Um also zu einer überzeugenden Umsetzung gelangen zu können, um Kunst zu einem Türöffner für neue Wirklichkeiten machen zu können, müssen verschiedene Parameter bedacht werden. Hier mein Glaubensbekenntnis: 1. Wahrnehmung braucht Entfaltungsmöglichkeiten, denn ohne Empathie kann sie sich nicht entwickeln. 2. Intelligente Bildarbeiten konfrontierten uns mit der Frage nach der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit. 3. Spekulation kann auch Chance sein. Rationalisten, die Metaphysik für eine Krankheit halten, haben da schlechte Karten, denn ihre Welt bleibt Oberfläche. Ich aber will imaginäre, materielle und soziale Anteile am Bildprozess erkunden. Will unter die Oberfläche der Bilder abtauchen, will hinter die Dinge blicken, will Tiefe und Sinn von Bild, Leben und Welt erkunden. Und das mit und im Bild. Deshalb ist die künstlerische Bildforschung eine Spezialdisziplin, die im empathischen Sinne verstanden werden will und mit wachem Denken praktiziert werden muss.
Das visuelle Ergebnis
Die praktische Umsetzung meines Umgangs mit diesen „Bildern vom Fels“ ist in den Abbildungen 2 bis 6 zu sehen. Sie zeigen die Doppelseiten „Der Fels“, welche das erste Kapitel meines Buches „Die Bewohner“ bilden. Um den Bildessay, die entstandene Bildlösung und meine Argumentation gedanklich nachvollziehen zu können, muss sie im Original, dem Buch, betrachtet und beurteilt werden. Dazu ist die für diese Publikation geforderte Struktur und Form nicht geeignet.
Überraschende Entdeckung
Hier endet die Geschichte vom Fels und den Menschen aber noch nicht. Ein halbes Jahr nach Erscheinen des Künstlerbuches stieß ich an einem Postkartenstand eines Antikmarktes auf ein Bild, welches den wunderbar funktionierenden Bildessay auf überraschende und erschreckende Art und Weise erweiterte. Ich fand eine Postkarte, auf welcher sich der als Friedenskanzler bezeichnete Adolf Hitler 1933 an besagtem Fels am Königssee portraitieren ließ (Abb. 7). Datiert auf dem 21. Mai 1933, kurz nach der Durchsetzung des Ermächtigungsgesetzes, offeriert dieser propagandistische Bilderfund einen schrecklichen Kontext. An diesem Beispiel zeigt sich die Wandelbarkeit fotografischen Materials recht anschaulich. Nun drängen ganz neue Fragen zu Abbild und Wirklichkeit, zu den Inszenierungen und Aktivitäten rund um den Fels in den Vordergrund. Jetzt stellt sich auch die Frage nach Henne und Ei. Wer war das Vorbild? Wer ahmte nach? Wer von den Abgebildeten kannte das Hitlerportrait und suchte gerade deshalb diesen Ort auf? Hier gehen die Spekulationen weiter. Oder die Untersuchungen durch einen Historiker beginnen.
Die Bilder zu obigem Text:
Abb. 1: Anonyme Schwarz-Weiß-Fotografie, ca. 10 x 15 cm, ca. 1930er Jahre (Privatbesitz Elmar Mauch/ Archiv der verwaisten Bilder).
Abb. 2 bis 5: „Der Fels“, vier Doppelseiten aus: Elmar Mauch: Die Bewohner. (Edition Patrick Frey) Zürich 2009.
Abb. 6: Postkarte, datiert 21. Mai 1933 (Privatbesitz Elmar Mauch).
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Bernd Stiegler, in: ders. Photographische Portraits, Wilhelm Fink Verlag 2015
Dekalog für künstlerische Bildforscher – Elmar Mauchs Arbeit am Bild
„Das Foto als Material zu begreifen, ist Schwierigkeit und Chance zugleich.“ Elmar Mauch
Ein Künstler ist, so scheint es, notwendigerweise ein Bildforscher. Warum dann die Selbstbeschreibung „Institut für künstlerische Bildforschung“, die Elmar Mauch sich und seiner Arbeit gegeben hat und die fast wie eine institutionelle Zuschreibung klingt?[1] Was ist also ein künstlerischer Bildforscher und was macht seine Arbeit aus?
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Doch zuerst werden die Fundstücke erst einmal zerlegt und neu geordnet, aus ihrem Zusammenhang gerissen und in den Kosmos des Bildforschers überführt. Er stellt das Gefundene in einen neuen Zusammenhang, lässt es Teil einer Taxinomie werden, sucht nach Verwandtschaften zwischen den Bildern und entdeckt so eine besondere Familie der Bilder. Zuschreibungen sind ihm eine Lust und auf die Signatur des Künstlers kommt es ihm nicht an. Wenn diese verschwindet oder ohnehin nicht benötigt wird, beginnt das Reich des künstlerischen Bildforschers Elmar Mauch. Knipser sind ihm ein Segen, professionelle Fotografen ein Graus. Und wenn sich doch einer zwischen die Bilder schleicht und auf ihnen seinen Namen hinterlassen hat, wird er sogleich getilgt. Individuelle Erfahrung ist immer auch eine allgemeine. Ein jedes persönliches Album wird aufgeblättert, um für alle lesbar zu werden. Zwischen A und Z, „Absurdes“ und „Zuneigung“ entspinnt sich so fortan ein Bildkosmos der Gebrauchsbilder. Man kann sich leicht vorstellen, welches Zauberland sich in den Schubladen des Instituts auftut und welche neuen Zusammenhänge mit einem Mal möglich werden. Bildforschung zielt auf die Lehre von Konstellationen. Durch ihre neue Zusammenstellung werden die Bilder zum Sprechen gebracht, durch den zwanglosen Zwang der besseren Konstellation, durch die komplexe Praxis der Montage.
Was wir in Elmar Mauchs Ausstellungen und Künstlerbüchern sehen können, ist nur ein kleiner Ausschnitt aus seiner umfänglichen langjährigen behutsamen wie beharrlichen Bildarbeit, die, wie er schön formuliert, sich einer „Geschichtsschreibung von unten“ verschreibt und gewissermaßen eine bereits bestehende fortschreibt. bzw. an diese anknüpft.[2] Denn der Bildarbeiter ist eben auch ein Bildbearbeiter. Elmar Mauch belässt die Bilder keineswegs in der Gestalt, in der er sie vorfindet, sondern greift in sie ein, um das, was sie transportieren, aufzugreifen und wieder in Umlauf zu bringen. „Diese verwaisten Bilder“, berichtet Elmar Mauch in einem Gespräch, „versuche ich emotional wieder zugänglich zu machen und die Betrachter mit Geschichten und Fragen zu konfrontieren.“[3] Er sucht nach neuen Wahlverwandten für die verwaisten Bilder und nach neuen Zugängen zu ihrer verschütteten sozialen Funktion. Bilder sind nicht nur Fermente des Sozialen, sondern auch Speicher der Gefühle und Arsenale des Sehens. Geschichte ist in Fotografien Bild geworden, dabei aber eigentümlich versteinert und muss so erst einmal wieder aufgebrochen und für die Gegenwart anschlussfähig gemacht werden. Das, was wir auf den Bildern erkennen können, ist nicht abgeschlossen, sondern zielt auf aneignende Betrachtung, auf Partizipation, Teilhabe und Teilnahme. Daher die Arbeit am Bild. Sie dient dazu, die Bilder zum Sprechen zu bringen, sie als Denkbilder zu begreifen, war ihnen doch immer schon eine besondere Verwandtschaft des Denkens und des Sehens zu Eigen. Die Fundstücke werden als Metaphern der Geschichte mitsamt ihrer präformierenden Kraft wiederentdeckt und wiedereingesetzt. Der künstlerische Bildforscher macht Bilder wieder zugänglich, indem er ihren Bildtraum betritt, darin herumwandert und seine Spuren hinterlässt. Das ist der künstlerische Teil dieser besonderen Forschung. Diese Eingriffe sind mitunter unmerklich, nehmen Vorgefundenes auf und arrangieren es neu, betonen Randständiges, doch gleichwohl Bedeutsames und ergänzen mitunter die Bilder durch sparsame Texte oder auch nur einzelne Worte, die jene anders zum Sprechen bringen. Text und Bild sind ihm nicht zwei getrennte Reiche, sondern eng miteinander verwoben. Es geht ihm nicht um eine Zweiweltenlehre, sondern um die wechselseitige Durchlässigkeit von Bild- und Textsprache. Sie stehen wie auch das Sehen und Denken in einem fortwährenden Verweisungsverhältnis. Kein Denken ohne Bilder und keine Bilder ohne Denken. Beide sind konstitutive Teile der Bildsprache, die bei genauerem Hinsehen (und in dieses will der Bildforscher einüben) eine jede Sprache immer schon ist. Der Bildforscher ist dabei eine Art Orchestrator der Polyphonie des Bildsprechens. Weder auf kontrollierte Einstimmigkeit noch auf anarchische Glossolalie, also Zungenreden, sondern auf komplexe Mehrstimmigkeit zielen seine Eingriffe, die dennoch stimmig zu sein haben. Auch das ist die ästhetische Aufgabe des Bildforschers, der sich als künstlerischer bezeichnet.
Dieser künstlerische Bildforscher ist zwar ein spielerischer Charakter mit viel scharfem Witz und pointierter Ironie, befolgt dabei aber ein strenges Credo. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung sind ihm gleichermaßen wichtig. Er hat seinen eigenen ungeschrieben Dekalog, den man vielleicht gleichwohl ausformulieren kann. So lauten also die zehn Gebote des künstlerischen Bildforschers:
Das erste Gebot
Du sollst viele andere Bilder haben neben mir. Ein Bild ist nie genug, da Bilder soziale Wesen sind und untereinander kommunizieren. Bilder gibt es nur im Plural, in Familien, Wahlverwandtschaften und Konstellationen. Bilder sind keine Götter, auch wenn wir zur Bildverehrung tendieren. Die Aufgabe des künstlerischen Bildforschers ist es gerade diesen idolatrischen Zusammenhang zu zerschlagen. Subtile Ironie ist dabei die beste Strategie und die Subversion des Vorgefundenen ein probates Mittel. Versuche „die Dinge von einer ideologiefreien Basis aus zu betrachten“ lautet die Aufgabe.[4]
Das zweite Gebot
Du sollst die Gestalt des Bildes missbrauchen, sollst es zerschneiden, umarbeiten, nach verborgen Spuren suchen und diese herausarbeiten, Verdrängtes ans Tageslicht befördern. Das ist das Gebot der bildforschenden Montage. Die analoge Fotografie ist Dir nicht heilig und die digitalen Verfahren ein Segen, gestatten sie Dir doch kaum erkennbare Eingriffe in die Bildoberflächen. Erst so dringst Du in die Tiefe der Bedeutung vor, in ihre subtilen Verschiebungsfelder, erst so lotest Du ihre seismischen wie semantischen Erschütterungen aus. Was fest gefügt scheint, brich es auf.
Das dritte Gebot
Du sollst Ikonoklasmus begehen und die Bilder aus ihrem ideologischen Kontext herausreißen. Der Bildforscher hat unabhängig und distanziert und dabei dennoch radikal parteiisch zu sein. Er bezieht die Partei der Bilder, deren Flaschenpost-Botschaft er entziffert und übersetzt. Aus alten Bildern werden neue Bilder. Zerstöre die Bilder, um sie neu zu erschaffen und ihnen dennoch treu zu bleiben.
Das vierte Gebot
Du sollst den Bildern neue Verwandte suchen, sollst sie ihrer Familie entreißen und nach neuen Kontexten suchen. Erst so werden die Bilder frei und beginnen zu sprechen. Ihre Herkunft ist letzten Endes nicht von Bedeutung, sind sie doch ohnehin Teil einer ungleich größeren Familie der Bilder, die ihnen ihre gesellschaftliche Bedeutung erst geben.
Das fünfte Gebot
Du sollst Bilder zerschneiden, zerlegen, auseinandernehmen bis aufs pulsierende Herz, um ihr Funktionieren besser zu verstehen. Du bist der Anatom der Bilder. Du sollst mit ihnen machen, was Du willst, aber nicht Deinem Bildbegehren folgen, sondern den Bildtrieben, die Dich locken und verführen. Gib ihnen nach, lass Dich verführen, aber nicht vorführen. Lass die Bilder sprechen und analysiere dann nüchtern ihre Sprache. Lass sie aufeinanderprallen, um zu sehen, was dann geschieht. Zerschneide sie, um neue Zusammenhänge herzustellen.[5]
Das sechste Gebot
Promiskuität ist Deine Pflicht als Bildforscher. Du kannst einem Bild nur dann treu bleiben, wenn Du fremd gehst, Dich auf fremde Bilder einlässt, mit anderen Bildern Deine Zeit verbringst und Deine Gefühle teilst. Als Bildforscher bist Du ein freizügiges, aber auch offenherziges Wesen. Du vertraust Dich den Bildern an, die sich ihrerseits Deinem Blick und dann auch dem der Betrachterinnen und Betrachter öffnen. Ohne emotionalen Austausch ist eine Bildforschung witzlos. Bilder sind das Begegnungsfeld der Gefühle, eine cruising zone der Emotionen.
Das siebte Gebot
Du sollst Dir aneignen, wo auch immer Du kannst. Kein Bild soll vor Dir sicher sein, keine Fotografie ein Eigentum. Wo auch immer Du Bilder findest, nimm sie mit, mach sie Dir zu Eigen. Aber sie sollen nicht Dein Eigentum bleiben. Du eignest Dir die Bilder an, um sie nach Deinen Eingriffen in anderer Gestalt zu verbreiten, um sie zu bewahren. Gleichwohl ist Dir Bildbesitz fremd, sind doch Bilder da, um zu zirkulieren. Bilder sind Gemeinbesitz. Entwende sie aus dem Privateigentum, mache sie wieder zum sozialen Kapital.
Das achte Gebot
Du sollst falsches Zeugnis reden wider dein nächstes Bild. Du sollst es ärgern, verlocken, bedrängen, umstellen, necken und mit fremden Texten versehen. Nur so kommt die Wahrheit zu tage. Schreib etwas in es hinein, was ihm entgegensteht oder widerspricht. Stelle ihm ein anderes Bild gegenüber, das es zum Reden zwingt. Bringe es zur Aussage. Und wisse: Fotografien sind subtile Lügner.
Das neunte Gebot
Du sollst begehren deines Nächsten Album. Ein jedes, das Du finden kannst, nimm es mit. Du findest dort das Begehren Deines Nächsten, das, was ihm wert und lieb ist, das, was erinnern und tradieren will. Schau es Dir an, mach es Dir zu Eigen. Mach es zum Gemeinbesitz. Mach es öffentlich. Was er als Eigenes betrachtete, war es nie. Das zeigen die Bilder. Stell das aus. Räume mit der Lüge der privaten Fotografie auf, indem Du in ihr Familien-, Generationen- und mitunter Menschheitserfahrungen entzifferst.
Das zehnte Gebot
Du sollst begehren deines Nächsten Bild, Buch, Rahmen, Notizheft und alles, worin Dein Nächster seine Bilder hat. So verstehst Du, wie er seine Bilder verwendet, wie er sie anordnet, ihnen Bedeutung gibt und sie in Geschichten verwandelt. Erzähle die Geschichten neu, anders, verfremde sie, dreh sie herum, verwandle sie. [6]
Das Schöne dieser Zehn Gebote der Bildforschung ist, dass sie nichts festschreiben, zu nichts zwingen, keine Pflichten festlegen, sondern Bedeutungen freilegen, zirkulieren lassen und zu einem eigenen Ikonoklasmus aufrufen. Es geht um nichts Geringeres als um das Reich der Freiheit. Hat man einmal die künstlerischen Bildforschungen Elmar Mauchs genau studiert, so kann man die Sprache der Bilder verstehen, mit ihr spielen und die Kunst der subtilen Übergänge und komplexen Konstellationen erkunden. Es ist die Kunst eines anderen, eines neuen Sehens, dem die Kraft der Metamorphose zu Eigen ist. Zugleich eröffnet sich das große weite Feld der Gebrauchsweisen der Bilder, deren kommunikative Möglichkeiten sich neu erschließen. Und selbst das Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs wird mit einem Mal zu einem solchen Raum der Gefühle und Erfahrungen. Walter Benjamin hatte dereinst gerade im Ersten Weltkrieg eine historische Zäsur ausgemacht, da die Soldaten arm an Erfahrungen, traumatisiert und stumm zurückgekehrt seien. Sie hätten der nächsten Generation nichts mitzuteilen gehabt, so einschneidend sei die Zeit an der Front gewesen. Elmar Mauch zeigt uns, dass es die Bilder sind, die es aufzusuchen und aufzudecken gilt, will man diese Erfahrungen freilegen. Sie als Erfahrungsraum wieder neu erschlossen zu haben, ist ein Ergebnis seiner künstlerischen Bildforschung. Es wird nicht das letzte sein. Neue Bilder warten auf ihn und auch neue Bilderkriege.
[1] Vgl. seine Websites: http://www.elmarmauch.de/ und insbesondere https://www.ikb-bildforschung.de/
[2] Andreas Till, „Gespräch mit Elmar Mauch“, in: Cahiers – Hefte zur Fotografie, Nr. 2, 2014, S. 69.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Elmar Mauch formuliert das so: „Durch die Montage von Bildern im Buch, durch das Schaffen von Konstellationen und Seitenabfolgen kann Spannung, aber auch gedanklicher Freiraum erzeugt werden. Dieser gibt den Betrachterinnen und Betrachtern die Möglichkeit, eigene (Bild)erfahrungen und Erinnerungen einzubringen. So besteht der Wahrnehmungsakt nicht in einem Zeigen von ‚So ist es‘, sondern eher in der Konstruktion einer Realität, die durch einen empathischen Seh- und Denkakt des Betrachters zur Vollendung kommt.“ (http://www.fotokritik.de/ Nachdenken über Fotografie – Gespräch mit Elmar Mauch über „Foto-Bild-Forschung“. 1. Folge von Thomas Leuner, S. 18)
[6] Vgl. hierzu auch: http://www.fotokritik.de/ Nachdenken über Fotografie – Gespräch mit Elmar Mauch über „Foto-Bild-Forschung“. 2. Folge von Thomas Leuner