Archiv | Grundlagen

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Ein Teil unseres visuellen Erbes kommt uns abhanden.

Die Fotografie hat einst die demokratische Möglichkeit geschaffen, dass Menschen aller Gesellschaftsklassen, sich und ihre Aktivitäten im Bild festhalten konnten. In jeder Familie befand sich ein Bilderschatz. In Alben und Kisten wurden bildgewordene Kriegs-, Sonntags- und Alltagserlebnisse für die Nachwelt festgehalten. Dieses analoge Zeitalter liegt hinter uns. Seine Hinterlassenschaften werden nun nach und nach auf den Flohmärkten verstreut.

Aus dem Schatz ist ein kontextloser Bilderhaufen geworden, der ratlos entsorgt wird. Vor mehr als 20 Jahren stieß ich auf dieses verstörende Phänomen des Wegwerfens von Privatfotografien und begann als Reaktion darauf anonyme Fotografien und ganze Nachlässe zu sichern. Das dadurch entstandene „Archiv der verwaisten Bilder“ umfasst inzwischen mehr als 100 000 Alltagsfotografien, dazu mehr als 100 Alben und gerahmte Fotografien aller Genres und Zeiten. Von diesen analogen Silbergelatineprints sind bereits mehr als 20 000 gescannt und warten in mehr als 800 verschiedenen Kategorien auf Weiterbearbeitung.

Das „Archiv der verwaisten Bilder“ ist kein Archiv im herkömmlichen Sinne. Es ist ein Archiv „von unten“. Darin enthalten sind bildliche Zeugnisse gelebten Lebens, ohne Vorbedingung an Status und Wert des Abgebildeten. Es bietet einen umfassenden Einblick in das Spektrum von fotografischen Hinterlassenschaften unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Milieus. Durch seine schiere Vielfalt macht es mediale, soziologische, ästhetische und kulturelle Phänomene dingfest.

Um einen Überblick über das disparate Material dieses „Archiv der verwaisten Bilder“ bewahren zu können und um es als Arbeitsgrundlage für eine künstlerische Forschung nutzen zu können, hat sich die Sortierung des Material in unterschiedliche Kategorien, beginnend von „Absurdes“ über „rätselhaftes Tun“, „Psyche“ bis hin zu „Zwillinge“, als nützlich erwiesen. In den einzelnen Kategorien werden Bilder zusammengefasst, die eine ästhetische, thematische, oder inhaltliche Klammer verbindet, oder in denen visuelle oder kulturelle Phänomene sichtbar sind. Als Besonderheit sind die Kategorientitel zu verstehen, die eine Metapher verbindet. In diesen speziellen Zusammenfassungen klingt oft schon die Grundidee für eine Weiterverwendung in einer Erzählung an.

Das Bildarchiv ist Basis und Ausgangpunkt für die Bildforschungsarbeiten des Institut für künstlerische Bildforschung. Durch einen anti-archivarischen, respektvollen aber auch radikalen Umgang mit dem Material, wird diesem einiges an Erkenntnis über Bild und Wahrnehmung abgerungen. Durch künstlerische Interventionen und bildpoetische Prozesse bilden die verwaisten Alltagsfotografien nun neue Konstellationen und beginnen so verschiedene Fragestellungen zu lebensphilosophischen Themen sichtbar zu machen. Ziel dieser spezifischen künstlerischen Bildforschung ist es, die im Archiv abgelegten Bilder zu re-emotionalisieren und durch gestalterisch-künstlerische Interventionen aus ihrer Festsetzung in der Zeit zu lösen. Eine Auswahl der daraus entstandenen künstlerischen Arbeiten sind im Anti-Archiv zu finden.

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