Bernd Stiegler, in: ders. Photographische Portraits, Wilhelm Fink Verlag 2015
Dekalog für künstlerische Bildforscher – Elmar Mauchs Arbeit am Bild
„Das Foto als Material zu begreifen, ist Schwierigkeit und Chance zugleich.“ Elmar Mauch
Ein Künstler ist, so scheint es, notwendigerweise ein Bildforscher. Warum dann die Selbstbeschreibung „Institut für künstlerische Bildforschung“, die Elmar Mauch sich und seiner Arbeit gegeben hat und die fast wie eine institutionelle Zuschreibung klingt?[1] Was ist also ein künstlerischer Bildforscher und was macht seine Arbeit aus?
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Doch zuerst werden die Fundstücke erst einmal zerlegt und neu geordnet, aus ihrem Zusammenhang gerissen und in den Kosmos des Bildforschers überführt. Er stellt das Gefundene in einen neuen Zusammenhang, lässt es Teil einer Taxinomie werden, sucht nach Verwandtschaften zwischen den Bildern und entdeckt so eine besondere Familie der Bilder. Zuschreibungen sind ihm eine Lust und auf die Signatur des Künstlers kommt es ihm nicht an. Wenn diese verschwindet oder ohnehin nicht benötigt wird, beginnt das Reich des künstlerischen Bildforschers Elmar Mauch. Knipser sind ihm ein Segen, professionelle Fotografen ein Graus. Und wenn sich doch einer zwischen die Bilder schleicht und auf ihnen seinen Namen hinterlassen hat, wird er sogleich getilgt. Individuelle Erfahrung ist immer auch eine allgemeine. Ein jedes persönliches Album wird aufgeblättert, um für alle lesbar zu werden. Zwischen A und Z, „Absurdes“ und „Zuneigung“ entspinnt sich so fortan ein Bildkosmos der Gebrauchsbilder. Man kann sich leicht vorstellen, welches Zauberland sich in den Schubladen des Instituts auftut und welche neuen Zusammenhänge mit einem Mal möglich werden. Bildforschung zielt auf die Lehre von Konstellationen. Durch ihre neue Zusammenstellung werden die Bilder zum Sprechen gebracht, durch den zwanglosen Zwang der besseren Konstellation, durch die komplexe Praxis der Montage.
Was wir in Elmar Mauchs Ausstellungen und Künstlerbüchern sehen können, ist nur ein kleiner Ausschnitt aus seiner umfänglichen langjährigen behutsamen wie beharrlichen Bildarbeit, die, wie er schön formuliert, sich einer „Geschichtsschreibung von unten“ verschreibt und gewissermaßen eine bereits bestehende fortschreibt. bzw. an diese anknüpft.[2] Denn der Bildarbeiter ist eben auch ein Bildbearbeiter. Elmar Mauch belässt die Bilder keineswegs in der Gestalt, in der er sie vorfindet, sondern greift in sie ein, um das, was sie transportieren, aufzugreifen und wieder in Umlauf zu bringen. „Diese verwaisten Bilder“, berichtet Elmar Mauch in einem Gespräch, „versuche ich emotional wieder zugänglich zu machen und die Betrachter mit Geschichten und Fragen zu konfrontieren.“[3] Er sucht nach neuen Wahlverwandten für die verwaisten Bilder und nach neuen Zugängen zu ihrer verschütteten sozialen Funktion. Bilder sind nicht nur Fermente des Sozialen, sondern auch Speicher der Gefühle und Arsenale des Sehens. Geschichte ist in Fotografien Bild geworden, dabei aber eigentümlich versteinert und muss so erst einmal wieder aufgebrochen und für die Gegenwart anschlussfähig gemacht werden. Das, was wir auf den Bildern erkennen können, ist nicht abgeschlossen, sondern zielt auf aneignende Betrachtung, auf Partizipation, Teilhabe und Teilnahme. Daher die Arbeit am Bild. Sie dient dazu, die Bilder zum Sprechen zu bringen, sie als Denkbilder zu begreifen, war ihnen doch immer schon eine besondere Verwandtschaft des Denkens und des Sehens zu Eigen. Die Fundstücke werden als Metaphern der Geschichte mitsamt ihrer präformierenden Kraft wiederentdeckt und wiedereingesetzt. Der künstlerische Bildforscher macht Bilder wieder zugänglich, indem er ihren Bildtraum betritt, darin herumwandert und seine Spuren hinterlässt. Das ist der künstlerische Teil dieser besonderen Forschung. Diese Eingriffe sind mitunter unmerklich, nehmen Vorgefundenes auf und arrangieren es neu, betonen Randständiges, doch gleichwohl Bedeutsames und ergänzen mitunter die Bilder durch sparsame Texte oder auch nur einzelne Worte, die jene anders zum Sprechen bringen. Text und Bild sind ihm nicht zwei getrennte Reiche, sondern eng miteinander verwoben. Es geht ihm nicht um eine Zweiweltenlehre, sondern um die wechselseitige Durchlässigkeit von Bild- und Textsprache. Sie stehen wie auch das Sehen und Denken in einem fortwährenden Verweisungsverhältnis. Kein Denken ohne Bilder und keine Bilder ohne Denken. Beide sind konstitutive Teile der Bildsprache, die bei genauerem Hinsehen (und in dieses will der Bildforscher einüben) eine jede Sprache immer schon ist. Der Bildforscher ist dabei eine Art Orchestrator der Polyphonie des Bildsprechens. Weder auf kontrollierte Einstimmigkeit noch auf anarchische Glossolalie, also Zungenreden, sondern auf komplexe Mehrstimmigkeit zielen seine Eingriffe, die dennoch stimmig zu sein haben. Auch das ist die ästhetische Aufgabe des Bildforschers, der sich als künstlerischer bezeichnet.
Dieser künstlerische Bildforscher ist zwar ein spielerischer Charakter mit viel scharfem Witz und pointierter Ironie, befolgt dabei aber ein strenges Credo. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung sind ihm gleichermaßen wichtig. Er hat seinen eigenen ungeschrieben Dekalog, den man vielleicht gleichwohl ausformulieren kann. So lauten also die zehn Gebote des künstlerischen Bildforschers:
Das erste Gebot
Du sollst viele andere Bilder haben neben mir. Ein Bild ist nie genug, da Bilder soziale Wesen sind und untereinander kommunizieren. Bilder gibt es nur im Plural, in Familien, Wahlverwandtschaften und Konstellationen. Bilder sind keine Götter, auch wenn wir zur Bildverehrung tendieren. Die Aufgabe des künstlerischen Bildforschers ist es gerade diesen idolatrischen Zusammenhang zu zerschlagen. Subtile Ironie ist dabei die beste Strategie und die Subversion des Vorgefundenen ein probates Mittel. Versuche „die Dinge von einer ideologiefreien Basis aus zu betrachten“ lautet die Aufgabe.[4]
Das zweite Gebot
Du sollst die Gestalt des Bildes missbrauchen, sollst es zerschneiden, umarbeiten, nach verborgen Spuren suchen und diese herausarbeiten, Verdrängtes ans Tageslicht befördern. Das ist das Gebot der bildforschenden Montage. Die analoge Fotografie ist Dir nicht heilig und die digitalen Verfahren ein Segen, gestatten sie Dir doch kaum erkennbare Eingriffe in die Bildoberflächen. Erst so dringst Du in die Tiefe der Bedeutung vor, in ihre subtilen Verschiebungsfelder, erst so lotest Du ihre seismischen wie semantischen Erschütterungen aus. Was fest gefügt scheint, brich es auf.
Das dritte Gebot
Du sollst Ikonoklasmus begehen und die Bilder aus ihrem ideologischen Kontext herausreißen. Der Bildforscher hat unabhängig und distanziert und dabei dennoch radikal parteiisch zu sein. Er bezieht die Partei der Bilder, deren Flaschenpost-Botschaft er entziffert und übersetzt. Aus alten Bildern werden neue Bilder. Zerstöre die Bilder, um sie neu zu erschaffen und ihnen dennoch treu zu bleiben.
Das vierte Gebot
Du sollst den Bildern neue Verwandte suchen, sollst sie ihrer Familie entreißen und nach neuen Kontexten suchen. Erst so werden die Bilder frei und beginnen zu sprechen. Ihre Herkunft ist letzten Endes nicht von Bedeutung, sind sie doch ohnehin Teil einer ungleich größeren Familie der Bilder, die ihnen ihre gesellschaftliche Bedeutung erst geben.
Das fünfte Gebot
Du sollst Bilder zerschneiden, zerlegen, auseinandernehmen bis aufs pulsierende Herz, um ihr Funktionieren besser zu verstehen. Du bist der Anatom der Bilder. Du sollst mit ihnen machen, was Du willst, aber nicht Deinem Bildbegehren folgen, sondern den Bildtrieben, die Dich locken und verführen. Gib ihnen nach, lass Dich verführen, aber nicht vorführen. Lass die Bilder sprechen und analysiere dann nüchtern ihre Sprache. Lass sie aufeinanderprallen, um zu sehen, was dann geschieht. Zerschneide sie, um neue Zusammenhänge herzustellen.[5]
Das sechste Gebot
Promiskuität ist Deine Pflicht als Bildforscher. Du kannst einem Bild nur dann treu bleiben, wenn Du fremd gehst, Dich auf fremde Bilder einlässt, mit anderen Bildern Deine Zeit verbringst und Deine Gefühle teilst. Als Bildforscher bist Du ein freizügiges, aber auch offenherziges Wesen. Du vertraust Dich den Bildern an, die sich ihrerseits Deinem Blick und dann auch dem der Betrachterinnen und Betrachter öffnen. Ohne emotionalen Austausch ist eine Bildforschung witzlos. Bilder sind das Begegnungsfeld der Gefühle, eine cruising zone der Emotionen.
Das siebte Gebot
Du sollst Dir aneignen, wo auch immer Du kannst. Kein Bild soll vor Dir sicher sein, keine Fotografie ein Eigentum. Wo auch immer Du Bilder findest, nimm sie mit, mach sie Dir zu Eigen. Aber sie sollen nicht Dein Eigentum bleiben. Du eignest Dir die Bilder an, um sie nach Deinen Eingriffen in anderer Gestalt zu verbreiten, um sie zu bewahren. Gleichwohl ist Dir Bildbesitz fremd, sind doch Bilder da, um zu zirkulieren. Bilder sind Gemeinbesitz. Entwende sie aus dem Privateigentum, mache sie wieder zum sozialen Kapital.
Das achte Gebot
Du sollst falsches Zeugnis reden wider dein nächstes Bild. Du sollst es ärgern, verlocken, bedrängen, umstellen, necken und mit fremden Texten versehen. Nur so kommt die Wahrheit zu tage. Schreib etwas in es hinein, was ihm entgegensteht oder widerspricht. Stelle ihm ein anderes Bild gegenüber, das es zum Reden zwingt. Bringe es zur Aussage. Und wisse: Fotografien sind subtile Lügner.
Das neunte Gebot
Du sollst begehren deines Nächsten Album. Ein jedes, das Du finden kannst, nimm es mit. Du findest dort das Begehren Deines Nächsten, das, was ihm wert und lieb ist, das, was erinnern und tradieren will. Schau es Dir an, mach es Dir zu Eigen. Mach es zum Gemeinbesitz. Mach es öffentlich. Was er als Eigenes betrachtete, war es nie. Das zeigen die Bilder. Stell das aus. Räume mit der Lüge der privaten Fotografie auf, indem Du in ihr Familien-, Generationen- und mitunter Menschheitserfahrungen entzifferst.
Das zehnte Gebot
Du sollst begehren deines Nächsten Bild, Buch, Rahmen, Notizheft und alles, worin Dein Nächster seine Bilder hat. So verstehst Du, wie er seine Bilder verwendet, wie er sie anordnet, ihnen Bedeutung gibt und sie in Geschichten verwandelt. Erzähle die Geschichten neu, anders, verfremde sie, dreh sie herum, verwandle sie. [6]
Das Schöne dieser Zehn Gebote der Bildforschung ist, dass sie nichts festschreiben, zu nichts zwingen, keine Pflichten festlegen, sondern Bedeutungen freilegen, zirkulieren lassen und zu einem eigenen Ikonoklasmus aufrufen. Es geht um nichts Geringeres als um das Reich der Freiheit. Hat man einmal die künstlerischen Bildforschungen Elmar Mauchs genau studiert, so kann man die Sprache der Bilder verstehen, mit ihr spielen und die Kunst der subtilen Übergänge und komplexen Konstellationen erkunden. Es ist die Kunst eines anderen, eines neuen Sehens, dem die Kraft der Metamorphose zu Eigen ist. Zugleich eröffnet sich das große weite Feld der Gebrauchsweisen der Bilder, deren kommunikative Möglichkeiten sich neu erschließen. Und selbst das Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs wird mit einem Mal zu einem solchen Raum der Gefühle und Erfahrungen. Walter Benjamin hatte dereinst gerade im Ersten Weltkrieg eine historische Zäsur ausgemacht, da die Soldaten arm an Erfahrungen, traumatisiert und stumm zurückgekehrt seien. Sie hätten der nächsten Generation nichts mitzuteilen gehabt, so einschneidend sei die Zeit an der Front gewesen. Elmar Mauch zeigt uns, dass es die Bilder sind, die es aufzusuchen und aufzudecken gilt, will man diese Erfahrungen freilegen. Sie als Erfahrungsraum wieder neu erschlossen zu haben, ist ein Ergebnis seiner künstlerischen Bildforschung. Es wird nicht das letzte sein. Neue Bilder warten auf ihn und auch neue Bilderkriege.
[1] Vgl. seine Websites: http://www.elmarmauch.de/ und insbesondere https://www.ikb-bildforschung.de/
[2] Andreas Till, „Gespräch mit Elmar Mauch“, in: Cahiers – Hefte zur Fotografie, Nr. 2, 2014, S. 69.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Elmar Mauch formuliert das so: „Durch die Montage von Bildern im Buch, durch das Schaffen von Konstellationen und Seitenabfolgen kann Spannung, aber auch gedanklicher Freiraum erzeugt werden. Dieser gibt den Betrachterinnen und Betrachtern die Möglichkeit, eigene (Bild)erfahrungen und Erinnerungen einzubringen. So besteht der Wahrnehmungsakt nicht in einem Zeigen von ‚So ist es‘, sondern eher in der Konstruktion einer Realität, die durch einen empathischen Seh- und Denkakt des Betrachters zur Vollendung kommt.“ (http://www.fotokritik.de/ Nachdenken über Fotografie – Gespräch mit Elmar Mauch über „Foto-Bild-Forschung“. 1. Folge von Thomas Leuner, S. 18)
[6] Vgl. hierzu auch: http://www.fotokritik.de/ Nachdenken über Fotografie – Gespräch mit Elmar Mauch über „Foto-Bild-Forschung“. 2. Folge von Thomas Leuner